Gothic Retrospektive: Arcania

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Sonne oder Regen? Wen interessiert’s? Keine Sau.

…außer vielleicht Zyra. Aber ich glaube, das liegt eher daran, dass sie ein Auge auf den Protagonisten geworfen hat und nur einen Vorwand sucht, sich für ein paar Minuten mit ihm im Schlamm zu wälzen. … Es wäre zumindest eine Erklärung.

Wirklich relevante Nebenquests sucht man vergebens und auch die Hauptstory von Arcania sprüht nicht gerade vor Kreativität. Zunächst wollen wir uns an Rhobar für die Zerstörung unserer Heimatinsel und den Tod unserer Verlobten rächen. Schon allein das stößt vielen Veteranen sauer auf. Schließlich haben wir Rhobar durch drei Spiele und zwei Add-Ons geführt und identifizieren uns somit viel stärker mit ihm als dem neuen Helden. Später stellt sich heraus, dass der König von einem Dämon besessen ist und sich auch noch ein anderes uraltes Übel erhebt.

Hier ergibt sich die einzige wirkliche Bereicherung für das Gothic-Universum. Auf den südlichen Inseln wurde einst eine Göttin angebetet, deren Name heute in Vergessenheit geraten ist. Sie wird stets mit zwei Köpfen dargestellt, die verschiedene Seiten ihrer Persönlichkeit verkörpern. Einst dienten ihr übernatürliche Wesen – die dämonenhaften Ahn ´Bael und die engelsgleichen Ahn ´Nosiri, deren Streit über das Schicksal der Welt in einem Krieg eskalierte.

Dabei handelt es sich um eine frühe Form der Götter, die wir bereits kennen. So leiten sich die Namen Innos und Beliar ganz offensichtlich aus den Namen der Dienerinnen Nosiri und Bael ab. Xardas spekuliert, dass die Göttin eventuell die Mutter oder Schwester der Götter war. Selena, die einzig verbliebene Hohepriesterin der Ahn ´Nosiri, stellt im Add-On allerdings klar: Die Göttin selbst ist Adanos, was vom Helden mit folgenden Worten kommentiert wird: „Adanos ist eine Frau?“ Offensichtlich ist sie das, auch wenn Selena selbst in Frage stellt, ob Götter überhaupt ein Geschlecht haben. Wenn man die linguistische Finesse weiter konsequent anwendet, ergibt das auch Sinn: Ahn ist wahrscheinlich der ursprüngliche Name der Göttin. So lässt sich vielleicht Ahn ´Nosiri, was im späteren Sprachgebrauch der Welt zu Adanos wurde, frei mit ‚Das Gute in Ahn‘ und Ahn ´Bael mit ‚Das Böse in Ahn‘ übersetzen.

Nachdem wir Toshoo hinter uns gelassen haben, treffen wir zum ersten Mal auf Xesha, die Anführerin der Ahn ´Bael. Diese Wendung ab circa der Hälfte der Main Story bleibt aber auch die einzige. Statt ‚Rache am König‘ steht nun ‚Töte Xesha‘ am Ende der Einbahnstraße namens Arcania.

Im echten Leben nennt man so etwas Synkretismus – die Übernahme und Anpassung einer religiösen Idee in ein neues Weltbild. So gab es zum Beispiel im ptolemäischen Ägypten den Gott Serapis, der sowohl Elemente des altägyptischen Gottes Osiris als auch der hellenistischen Götter Zeus und Hades in sich vereinte. Was in der realen Welt funktioniert, ist allerdings in einem Fantasy-Universum problematisch. Denn in Gothic 3 konnten wir mit Innos und Beliar direkt interagieren. Heißt das also, dass es in Wirklichkeit die Göttin war, die in einer Art Schizophrenie mit zwei verschiedenen Stimmen sprach? Die Antwort ist schwierig. Aber gerade diese Ambiguität ist einer der interessantesten Aspekte der Story und einer der wenigen Punkte, die dafür sorgen, dass die Welt lebendig wirkt.

Immerhin kann sich der Mythos um die Göttin sehen lassen und regt zum Nachdenken an, was gut fürs Worldbuilding ist. Leider schlägt die Hauptstory bis auf einige interessante Implikationen nicht genügend Kapital daraus.

Was die Technik in Arcania betrifft, so kann sich die Grafik durchaus sehen lassen und ist mit Abstand die schönste der gesamten Reihe. Kleine Bugs wie Sound-Aussetzer oder Probleme bei der Schattendarstellung gab es zwar, diese waren aber bei weitem nicht so dramatisch wie in Gothic 3. Die Steuerung wurde erheblich verbessert, was allerdings noch eklatanter als im Vorgänger die taktische Tiefe des Kampfes beeinflusst. Dies ist wahrscheinlich auch dem Umstand geschuldet, dass ein Gothic-Titel erstmals auch auf den Konsolen PS3 und Xbox360 erscheinen sollte.

Die Grafik, historisch eher eine Schwäche der Serie, ist gut gelungen. Die Welt wirkt zwar wenig lebendig, aber nett anzusehen ist so ein Sonnenaufgang am Strand allemal.

Gut

  • sehr hübsche Grafik für einen Gothic-Titel
  • im Ansatz interessante Erweiterung des Mythos

Schlecht

  • keine taktische Tiefe im Kampf
  • Entscheidungen des Helden irrelevant für die Story
  • minimale Rollenspielelemente
  • flache Story und Charaktere
5.5

Mittelmäßig

Historiker mit einem Faible für Fantasywelten, RPGs, Anime und MLP.